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von Amy Eckert

Das Wort Entscheidungsfindung (discernment) bekamen die Teilnehmer in den eineinhalb Wochen der Generalversammlung in Leipzig oft zu hören. Was heißt discernment genau? Wie hilft dieser Prozess den Delegierten, Gottes Willen für die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zu finden? Und wie hilft dieser Prozess, das Gefühl der Einheit zu festigen, das für eine Organisation wie die der WGRK so wesentlich ist.

Gradye Parsons, seit 2010 Mitglied des Exekutivkomitees und abgeordneter Mitarbeiter für das Entscheidungsfindungsteam, half bei der Erklärung, wie die Versammlung auf Gruppenkonsens basierende Entscheidungen trifft.

Noch bevor die Teilnehmer nach Leipzig gekommen waren, wurden bereits Vorschläge zu Fragen der Gerechtigkeit, zur geschlechtsspezifischen Gerechtigkeit, zu Mission in der Gemeinschaft und zur Stärkung der Gemeinschaft entworfen und den Delegierten der Versammlung vorgelegt. Diese Vorschläge reichten von einer Unterstützung des Pariser Klimaabkommens über den bevorstehenden G20 Gipfel bis zur Glaubenserklärung zur Frauenordination.

In Deutschland wurden dann in sogenannten „Hörsitzungen“ Details zu den Vorschlägen zur weiteren Überlegung vorgetragen. Experten der verschiedenen Bereiche halfen, Anliegen zu klären und die Versammlungsteilnehmer hatten die Möglichkeit, Kommentare zu den Vorschlägen abzugeben und Fragen zu stellen. Standen dann die Vorlagen detailliert fest, teilten sich die Versammlungsmitglieder in 17 „Entscheidungsfindungsgruppen“, um jeden Vorschlag mit Bedacht zu besprechen.

Group

In vieler Hinsicht findet in diesen kleinen Gruppen die tatsächliche Entscheidungsfindung statt. „Bei der Entscheidungsfindung geht es wirklich mehr ums Zuhören als ums Reden“, erklärte Parsons. „Es ist wichtig zuzuhören, was andere sagen. Es ist wichtig zu hören, was Gott sagt. Und es ist wichtig, seine eigenen Gedanken zu dem jeweiligen Anliegen im Lichte dessen abzuwägen, was man gerade gehört hat.“

Rev. Lucy Wambui-Waweru, Pfarrerin der Presbyterianischen Kirche von Ost-Afrika, die in der Nyeri-Kirche in Zentralkenia ihren Dienst tut, findet den Einfluss, den jede/r „gewöhnliche“ Delegierte auf den Prozess innerhalb der kleinen Gruppe hat, sehr wertvoll.

„Entscheidungsfindungsgruppen“, betonte sie, „beziehen Stimmen aus der ganzen Welt mit ein. Auch besteht die Gruppe aus einer Mischung von älteren erfahreneren Ökumenikern so wie jungen Delegierten. Und jede Stimme wird gehört.“

Innerhalb dieser Entscheidungsgruppen werden typischerweise Änderungen aufgrund von Kommentaren in der Gruppe vorgeschlagen. Zu diesem Zeitpunkt werden die überarbeiteten Vorschläge – aus allen 17 Gruppen – an das „Redaktionsteam“ gesandt. Die Aufgabe dieses Teams ist es, alle 17 Empfehlungen zu filtern, zusammenzufassen und zu einem vereinenden Dokument zu verschmelzen. Diese Vorlage geht dann zurück zur Vollversammlung, wo sie in einer „Entscheidungssitzung“ zu weiteren Fragen und Kommentaren vorgestellt wird.

Schließlich bittet der Moderator der Entscheidungssitzung nach Tagen der Diskussion und des Gebetes zu einzelnen Anliegen darum, den Konsens zum Ausdruck zu bringen. Jede/r Delegierte hat die Möglichkeit, ihre/seine Einstellung zu einem Vorschlag mittels bunten Karten zu zeigen. Das Zeigen einer orangen Karte bedeutet, dass man sich für den Beschluss einer Vorlage erwärmen kann. Das Zeigen der blauen Karte bedeutet, dass man der Idee kühl gegenüber steht.

Rev. Annedore Held Venhaus, Pfarrerin der Evangelischen La Plata Kirche in Tres Arroyos in Argentinien, gefällt die Idee mit den bunten Karten. „Mir gefällt es, dass die Karten ein Gefühl ausdrücken und nicht eine Entscheidung.“, betonte sie. „Ich kann mich für eine Idee erwärmen oder ich stehe dieser Idee kühl gegenüber. Das fand ich sehr interessant.“

Waweru stimmte dem zu. Sie fand es hilfreich, dass Konsens Zeigen nicht hieß, dass ein/e Delegierte/r 100 % für oder gegen einen Vorschlag war, noch hieß dies, dass ein/e Delegierte/r einen klaren Weg zum Beschluss einer neuen Vorlage sehen konnte.

„Das Heben meiner orangen Karte bedeutet noch nicht, dass ich weiß, dass meine Heimatkirche den Vorschlag annehmen wird“, stellte sie fest. „Und es bedeutet nicht, dass ich weiß, dass meine Heimatkirche diesen durchführen wird. Meine orange Karte bedeutet nur, dass ich glaube, dass uns Gott ruft, in diese Richtung weiter zu gehen. Hier geht es vor allem um den Willen, einen Prozess zu beginnen.“

Jedes Mal, wenn Versammlungsdelegierte ihre Karten heben, ist es möglich, dass der Raum ein Meer von einer einzigen Farbe ist, orange oder blau. Noch wahrscheinlicher ist es aber, dass wir ein Farbengemisch sehen. Wenn die blauen Karten die Minderheit der Anwesenden in der Entscheidungssitzung darstellen, dann wird der Moderator eventuell um ihre Zustimmung bitten, um trotzdem einen Schritt weiter zu kommen. Und oft wird die Minderheit genau das machen. Warum? Manches Mal will die Minderheit einfach nur die Möglichkeit haben, Befürchtungen zum Ausdruck zu bringen. Nachdem sie dies tun konnte, ist sie bereit, einen Schritt weiter zu gehen. Manches Mal erkennt die Minderheit die Stimme Gottes in den Stimmen der vielen.

„Konsens heißt nicht Einstimmigkeit“, erläutert Parsons.

Andere Resultate einer Aufteilung nach orangen und blauen Karten könnten zu einer Überarbeitung der Vorlage führen, wobei die Anliegen der nicht Zustimmenden hineingenommen werden. Die Vorlage könnte auch zurück an das Exekutivkomitee zur weiteren Bearbeitung verwiesen werden.

„Im parlamentarischen System gibt es nur eine ‚Ja‘- oder ‚Nein’-Stimme“, unterstreicht Parsons. „Unsere Entscheidungsfindung bietet eine Vielfalt an Möglichkeiten.“

Für Delegierte, die niemals an einer Entscheidungsfindung durch Konsens teilgenommen haben, können diese Entscheidungsverfahren über neue Vorschläge fremd sein. Wenn man gewöhnt ist, Anträge und Änderungsanträge vorzulegen, wenn man gewöhnt ist, nach dem Buch Robert’s Rules of Order (eine parlamentarische Vorgehensweise) abzustimmen, mit Gewinn- oder Verlustwahlen, wo eben die einen gewinnen und die anderen verlieren, dann kann die Option, eine bunte Karte zu heben, um seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, verunsichern.

Aber Entscheidungsfindungsprozesse, wie sie in Leipzig durchgeführt wurden, sind nicht neu. Die Orthodoxe Kirche und die Quäker benutzen schon lange solche Entscheidungsverfahren. Die Sich Vereinende Kirche in Australien und religiöse Organisationen wie der Ökumenische Rat der Kirchen folgen auch dieser Praxis. Die Generalversammlung setzte die Entscheidungsfindung auf Konsensbasis jeweils in Accra (2004) und in Grand Rapids (2010) ein. Und gemäß Parsons ist die Konsensbildung auch in indigenen Kulturen die Norm.

Venhaus erlebte einen sehr ähnlichen Entscheidungsfindungsprozess in kirchlichen Beratungen in Argentinien. Als das Arbeitsbuch der Generalversammlung bei ihr ankam und sie vom Entscheidungsprozess der WGRK las, war sie erfreut.

„Wir verwenden keine farbigen Karten“, sagte sie. „Wenn wir die kleinen Entscheidungsgruppen durch haben, dann wählen wir ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Deshalb war es für mich sehr interessant zu sehen, wie die Generalversammlung die Entscheidungsfindung durchführt. Aber mir gefällt diese Methode sehr. Es ist ein Verfahren, in dem jede/r zu Wort kommt.“

Genauso wird auch Konsensbildung in Wawerus Heimat Kenia erreicht. „Wir müssen jede Stimme hören“, erklärt sie. „Alte Menschen, Frauen, junge Menschen. In meiner Kultur ziehen sich alle zurück, wenn die Zeit für eine Diskussion gekommen ist.“ Ihr Schweigen erlaubt es den erwachsenen Männern, alleine das letzte Wort zu haben – und manches Mal ist es das einzige Wort, das gesprochen wird.

„Als Kleingruppenleiter/in muss man wirklich lernen, wie man diese Menschen aus ihrer Reserve holt“, erinnert Waweru. „Man muss die Gruppendynamik gut ausbalancieren.“

Sowohl Waweru als auch Venhaus glauben, dass dieser Vorgang auch für jene, die es nicht fertig bringen, von blauen Karten zu orangen überzugehen, Respekt für ihre Überzeugungen bietet. Jede/r Delegierte kann, wenn sie/er will, einen schriftlichen Widerspruch für die historische Aufzeichnung hinterlassen. Nach ihren Eindrücken, da waren sich beide Pfarrerinnen einig, wurden gegnerische Ansichten in ihren Gruppen respektvoll behandelt. Sie glauben, dass der Entscheidungsprozess nur so erfolgreich funktionieren kann.

Auf Konsens basierende Entscheidungsfindung hat viele Befürworter, aber das Verfahren hat auch seine Herausforderungen. Die größte davon ist meistens der Zeitfaktor. Jeder Stimme einen Raum zu geben, damit sie gehört werden kann, bedeutet, man muss die Zeit einplanen, damit all diese Stimmen sprechen können.

Venhaus fand diese Hürde frustrierend. „Manches Mal, wenn wir sehr emotionale Fragen diskutierten, hatten die Gruppenmitglieder nur Zeit, ihre Meinungen darzulegen“, sagte sie. „Wenn das Exekutivkomitee die Absicht hat, wirklichen Konsens zu finden, dann müssen wir die Zeit haben, mit einander zu diskutieren, zu argumentieren und in den Dialog zu treten.“

Auch Waweru stimmte zu, dass die Zeitbeschränkung manchmal echten Konsens schwierig machte. Sie fragte sich auch, ob manche Entscheidungen davon beeinflusst worden waren, weil zu wenig Zeit vorhanden war, um wirklich alle Für und Wider eines bestimmten Vorschlages abzuwägen.

„Denn wir befinden uns alle zusammen mitten in diesem Verfahren, wir diskutieren und nehmen als Gruppe an diesem Prozess teil, wir denken und entscheiden an Ort und Stelle“, meinte sie. „Aber natürlich verbringen wir in dieser Generalversammlung auch viel Zeit im Gebet und suchen Gottes Willen. Deshalb vertrauen wir, dass der Heilige Geist durch diese Gruppen arbeiten wird.“

Auch wenn der Entscheidungsfindungsprozess der Generalversammlung noch verbessert werden kann, so hat sich diese Entscheidungsstrategie doch als erfolgreich erwiesen, um den Weg der WGRK in die Zukunft vorzugeben. Und das Verfahren garantiert, dass alle Mitglieder an der Steuerung des Kurses der Gemeinschaft beteiligt werden.

„Entscheidungsfindung in der Kirche sollte wie Kirche aussehen und nicht wie Politik,“ erklärte Parson. „Und das Verfahren soll eine Gemeinschaft bilden und diese nicht spalten.“

Waweru stimmt dem zu. „Einen Konsens finden heißt nicht, jedes Problem lösen“, sagte sie. „Aber wichtig ist, dass wir alle in dieselbe Richtung reisen. Und dass wir zusammen reisen.“