Von Amy Eckert, Bernd Becker, Anna Neumann
„Hier stehe ich, eine Frau aus dem Nahen Osten auf Luthers Kanzel.“ So begann die Predigt von Pfarrerin Najla Kassab beim ökumenischen Gottesdienst in der Stadtkirche in Wittenberg am 5. Juli. Jetzt steht sie an der Spitze der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen: Sie ist ihre erste weibliche Präsidentin. Die Generalversammlung wählte sie an ihrem letzten Tagungstag in Leipzig zur Nachfolgerin des südafrikanischen Theologen Jerry Pillay.
„Seit 1993 habe ich mich für die Ordination von Frauen im Nahen Osten eingesetzt, nun gehöre ich zu den ersten beiden Frauen, die in diesem Jahr ordiniert wurden“, erklärte Najla Kassab in der Abschlusspressekonferenz der Generalversammlung. Damit beschreibt sie anhand der eigenen Biografie ihren erfolgreichen Einsatz für Frauenrechte. Und sie ist überzeugt: „Kirche wächst durch die Kraft von Frauen.“
„Das Verhältnis von Frauen und Männern in der Generalversammlung und in der Leitung der WGRK ist ein gutes Zeichen“, erklärt die 52-jährige Theologin aus Beirut: „So können wir gemeinsam an Gottes Haus bauen.“
Die Unterzeichnung von zwei ökumenischen Dokumenten in Wittenberg sieht sie ebenfalls als „wunderbaren ökumenischen Schritt in die Zukunft“. Die WGRK hatte im Rahmen ihrer Generalversammlung das „Wittenberger Zeugnis“ – gemeinsam mit dem Lutherischen Weltbund – veröffentlicht.
Zudem schloss sich die WGRK der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ an, die bereits von der römisch-katholischen Kirche, dem Lutherischen Weltbund und dem Weltrat Methodistischer Kirchen unterzeichnet worden war. „Reformierte können ohne Ökumene nicht überleben. Deshalb hoffe ich auf neue Wege und Visionen der Zusammenarbeit der Konfessionen.“
Einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit als Präsidentin sieht Najla Kassab darin, die Regionen der reformierten Weltgemeinschaft zu stärken: „Ich möchte, dass sie miteinander diskutieren und dass wir erfahren, was sie denken.“ Für Kassab ist es ein schönes Bild, wenn Menschen um einen Tisch sitzen und einander zuhören. Und es freue sie besonders, „wenn viele junge Leute dabei sind“.
Die Pfarrerin der Nationalen Evangelischen Synode von Syrien und Libanon (NESSL) hat einen B.A. der Near East School of Theology (NEST, 1987) und einen Master-Abschluss für Theologie vom Princeton Theological Seminary (1990). Im März 2017 dann wurde sie ordiniert. Kassab war in den vergangenen 25 Jahren in der Frauen- und Kinderarbeit der NESSL tätig, zuletzt als Direktorin für Christliche Erziehung und Bildung. Die neue Präsidentin gehört bereits seit 2010 dem Exekutivausschuss der WGRK an.
In Wittenbergs Stadtkirche predigte Kassab: „Hier hat Luther zuerst gepredigt“, deshalb war es „der perfekte Ort, um von der Ordination der Frauen zu sprechen“.
So wie Martin Luther die Kirche des 16. Jahrhunderts kritisierte, weil sie der biblischen Lehre nicht gerecht wurde, ist Kassab überzeugt, dass sie nun Präsidentin ist, um daran mitzuwirken, dass die Kirche heute ihre Verantwortung in Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit wahrnimmt.
Martin Luther steht für klare Worte. Freie Meinungsäußerung ist wichtig, macht Kassab klar. Und so hat sie auf Luthers Kanzel seine 96. These entwickelt, die Frage: „Nicht warum eine Frau auf der Kanzel steht, sondern warum es so lange gedauert hat.“ Das sei nicht nur eine Frage der Gleichheit, so Kassab. „Das ist ein Kampf um Gerechtigkeit.“
Weiter erklärt die Theologin: „Die WGRK spricht viel über Gerechtigkeit.“ Sie komme aus dem Nahen Osten. „Ich weiß, wie Ungerechtigkeit aussieht.“
Najla Kassab lebt mit ihrem Ehemann Joseph Kassab und den drei Kindern in Beirut. Ihre Aufgaben führen sie regelmäßig nach Syrien. Das ist gefährlich. Aber die Theologin findet, dass die Kirche sich diesem Risiko aussetzen muss. „Ich muss da sein und persönlich bestätigen: Ich bin eine von euch. Wir als Kirche müssen physisch dort sein, wo Leid geschieht.“
Wenn wir nicht persönlich anwesend sein wollen, dann sollten wir erst gar nicht anfangen von Gerechtigkeit zu sprechen, auch das macht Najla Kassab deutlich. Sie jedenfalls wird darüber sprechen.